Neubeginn für die verlorene Generation
11. April 2012 •
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In meinem Artikel „Ein New Deal für die Jugend“ beschrieb ich, wie US-Präsident Franklin D. Roosevelt (FDR) und sein enger Mitarbeiter Harry Hopkins gegen die Große Depression vorgingen, um schnell und unmittelbar vielen, vor allem jungen Menschen wieder Arbeit zu geben, und für wie wichtig Roosevelt und Hopkins die Kultur erachteten.

In dem folgenden Artikel geht es nun darum, wie ein Neubeginn geschafft wurde, denn FDR wollte nicht bloß Krisenverwaltung betreiben, sondern die Nation wieder auf ihre Beine stellen. Das hieß, etwas Neues zu schaffen, denn eine Krise, die fundamentale Prinzipien in Frage stellt, kann nur durch Weiterentwicklung positiv gelöst werden.

Am deutlichsten erkennt man Präsident Franklin Roosevelts Herangehensweise in seiner Ansprache vom 11. Januar 1944 vor dem US-Kongreß zur Lage der Nation mit dem Titel „The Economic Bill of Rights“ (Die wirtschaftlichen Grundrechte). In dieser Rede ging er zunächst darauf ein, wie wichtig es sei, ein stabiles Wirtschaftssystem für die Friedenszeit zu schaffen, in dem die Notmaßnahmen, die von 1933 an zur Bekämpfung der Großen Depression getroffen wurden, nicht mehr benötigt werden. „Nach diesem Krieg müssen wir darauf vorbereitet sein, nach vorn zu schreiten, indem wir durch die Umsetzung dieser Rechte eine neue Ebene der menschlichen Glückseligkeit und des Wohlstandes erreichen“, erklärte Roosevelt. Dann legt er die Punkte dar, die als Grundlage einer Wirtschaft dienen sollten und das wirtschaftliche Grundrecht eines jeden Menschen darstellen:

    Das Recht - einer nützlichen und lukrativen Arbeit in der Industrie, den Läden, der Landwirtschaft oder dem Bergbau der Nation nachzugehen.

    Das Recht - genug zu verdienen, um für angemessene Kleidung, Nahrung und Erholung sorgen zu können.

    Das Recht - eines jeden Bauern, seine Produkte zu einem Preis selbst anzubauen und zu verkaufen, der ihm und seiner Familie einen guten Lebensstandard ermöglicht.

    Das Recht - eines jeden Geschäftsmannes, ob groß oder klein, in einer Umgebung Handel zu treiben, die frei von unfairem Wettbewerb und der Kontrolle durch Monopole ist.

    Das Recht - einer jeden Familie, ein angemessenes Heim zu haben.

    Das Recht - auf angemessene medizinische Versorgung und die Möglichkeit zu guter Gesundheit zu gelangen und sie zu genießen.

    Das Recht - auf angemessenen Schutz vor wirtschaftlichen Ängsten, etwa bei Alter, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit.

    Das Recht - auf eine gute Ausbildung.“

Neubeginn statt Reformen

Roosevelt war bereits vom Beginn der großen Depression an klar, daß die Überwindung dieser Krise nicht darin liegen konnte, die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie vor der Großen Depression herrschten, wieder herzustellen. Im Gegensatz zu vielen Politikern heute wußte er, daß man eine Krise nur überwinden kann, indem man etwas hervorbringt, was vor der Krise noch nicht existierte und was in seinem ganzen Potential noch gar nicht zu überblicken war.

Nimmt man den typischen Fall einer naturwissenschaftlichen Entdeckung, so wird ziemlich schnell klar, was damit gemeint ist. Denn bei einer solchen Entdeckung hat der Wissenschaftler natürlich eine Vorstellung davon, was er entdecken und verstehen will, aber das ganze Potential der Entdeckung wird er erst nach und nach erkennen, nachdem er die eigentliche Entdeckung gemacht hat.

Genauso verhält es sich auch mit der Überwindung politischer und wirtschaftlicher Krisen. Natürlich hatte Roosevelt eine Vorstellung davon, wo er hinwollte und wie eine neue Wirtschaft und Politik auszusehen hatte, aber es ist klar zu erkennen, daß er mit fortschreitender Zeit immer mehr erkannte, was für Möglichkeiten seine Veränderungen eröffneten, an die vorher noch nicht einmal zu denken war. Das ist auch der Grund, warum Menschen, die immer alles bis ins kleinste Detail wissen wollen, bevor sie handeln, entweder Narren oder Angsthasen sind, weil sie entweder keine Verantwortung tragen wollen oder irrationale Angst vor der Zukunft haben.

Ein Beispiel: Das TVA-Programm

Die TVA ist hier gleich doppelt das beste Beispiel - zum einen, daß etwas Neues geschaffen werden muß, um eine Krise zu überwinden, und zum anderen dafür, daß dieses Neue erst nach seiner Schaffung sein Potential mehr und mehr offenbart. Man hat also überhaupt keine Chance, alles darüber in Erfahrung zu bringen, bevor man nicht anfängt, es umzusetzen.

Dennoch darf es nicht nur ein Versuch sein, den man unternimmt, sondern man muß ganz genau wissen, daß das, was man tut, tatsächlich die Lösung für das Problem ist. Das ist ein Paradox, wie es nur bei wirklich kreativer Arbeit vorkommt, es ist das Zusammenfallen der Gegensätze.

Zunächst wurde die TVA am 18. Mai 1933 als Sofortmaßnahme gegen die Depression gegründet, als Unternehmen mit der Macht der Regierung und der Flexibilität und Initiative einer privaten Firma. Ein solches Unternehmen war etwas ganz Neues, und es stellt eine Verschmelzung der besten Eigenschaften von Staat und Privatwirtschaft dar.

Anstatt sich also auf den völlig sinnlosen Konflikt der Dogmatiker von Staats- und Privatinteressen1 einzulassen, stellte Roosevelt die prinzipielle Frage nach dem Nutzen eines Projektes für das Gemeinwohl und verschmolz dadurch einfach die besten Eigenschaften der sich im Widerstreit befindlichen Kräfte. David E. Lilienthal, der zehn Jahre lang Leiter der TVA war, beschrieb dies wie folgt:

    „Aufgrund meiner Erfahrung in einem Gebiet Amerikas möchte ich zeigen, daß solche neuen Arbeitsplätze, Fabriken und fruchtbaren Farmen geschaffen werden können, ohne daß wir zwischen den Extremen von rechts und links, zwischen überzentralisierter, allmächtiger Regierung und einer Politik des laissez-faire, zwischen Staatssozialismus und Privatwirtschaft oder zwischen anmaßender Staatsbürokratie und Vorherrschaft einiger weniger privater Monopole die Wahl treffen müssen. Es ist meine Überzeugung, daß wir in den bewährten Grundsätzen der Demokratie eine Weltanschauung besitzen, die dem Wesen unseres Maschinenzeitalters entspricht, und damit zugleich das geistige Werkzeug, unsere persönliche Freiheit und Wohlfahrt zu erhöhen.“2

Das Tennessee-Tal war beherrscht von seinen Flüssen, die vollkommen ungezügelt mit den Menschen machen konnten, was sie wollten. Es gab riesige Überschwemmungen und auch große Dürren, die das Leben der Menschen bedrohten. Die Menschen in diesem Tal waren ohne Strom und ohne geordnete Wasserversorgung der Natur hilflos ausgeliefert und hatten ihrer Gewalt nichts entgegenzusetzen.

Um dem Abhilfe zu leisten, schuf Roosevelt die TVA, ein Programm, das auf den alten Prinzipien der amerikanischen Verfassung gründete, aber in den Gewändern einer neuen Zeit erscheint. Denn wie FDR einmal selbst sagte, geht es nicht immer darum, die Welt neu zu erfinden, sondern häufiger darum, neue Wege für die bereits bekannten Prinzipien, wie das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit, zu finden und diese zu garantieren.

So begann die Arbeit an einem Programm, das den Amerikanern wieder Arbeit geben sollte, indem es eine zuvor unterentwickelte Region aufwertete, um den Menschen vor Ort ein besseres Leben zu ermöglichen.

Doch mit der Zeit und den Entwicklungen, die dort stattfanden, entfaltete sich das Potential dieser vollkommen neuen Art von Programm immer mehr. Lilienthal beschreibt, welche Kraft diese Verschmelzung zweier widerstreitender Kräfte3 freisetzen kann, und er kommt zu folgendem interessanten Schluß:

    „Ich glaube, daß die Menschen lernen können, in Harmonie mit den Naturkräften zu arbeiten, ohne zu zerstören, was ihnen Gott gegeben hat, und auch ohne daß sie diesen Kräften hilflos gegenüberstehen. Ich glaube an die großen Möglichkeiten, die Maschinen, Technik und Wissenschaft für die Wohlfahrt der Menschen bieten, und obwohl diese Mächte andererseits die Menschen mit Versklavung und Verkümmerung bedrohen, glaube ich, daß diese Gefahren vermieden werden können. Ich glaube, daß unter demokratischen Bedingungen die moderne Technik jedem Menschen die größten Möglichkeiten bietet, sich zu entwickeln, je nach seinen Fähigkeiten, seinen Wünschen und seiner Bereitschaft, die Verantwortung eines freien Mannes zu übernehmen. Die Entscheidung liegt bei uns; wir können die Wissenschaft zum Guten oder zum Schlechten anwenden. Ich glaube, daß die Menschen sich selbst befreien können, und ich wurde in dieser Überzeugung bestärkt, als ich sah, wie Freiheit in diesem Stromtal von seinen Menschen verwirklicht wurde...

    Wohl handelt es sich hier um das Tal des Tennessee, aber was dort geschehen ist, könnte in beinahe jedem der tausend anderen Täler geschehen sein, in denen das Wasser von den Bergen zu den Meeren fließt. Denn alle Täler der Erde haben diese Dinge gemeinsam: das Wasser, die Luft, die Erde, die Bodenschätze, die Wälder…

    Es gibt beinahe nichts, und schiene es noch so phantastisch, was eine Gruppe begabter Ingenieure, Wissenschaftler und Verwaltungsfachleute im Rahmen einer fähigen Organisation heute nicht leisten könnten…

    Die Menschen betrachten Armut nicht mehr als etwas Unvermeidliches, und in Mühsal, Krankheit, Schmutz, Hunger, Überschwemmung und Erschöpfung sehen sie nicht mehr Heimsuchungen des Teufels oder Strafe Gottes.“

Das zeigt die Kraft, die hinter diesem und vielen weiteren Programmen der Roosevelt-Administration stand, und die einen wirklichen Neubeginn ermöglichen konnte, weil man das Feld von Politik und Wirtschaft neu ordnete und auf eine höhere Ebene anhob, indem man universell gültige Prinzipien zur Anwendung brachte, anstatt sie Privatinteressen zu überlassen.

Ein Rückblick zum Beginn der Präsidentschaft 1933

In diesem Jahr der Amtseinführung veröffentlichte Roosevelt sein Buch Blick Vorwärts, eine Zusammenstellung von Artikeln, die er vor dem 1. März 1933 veröffentlicht hatte. Darin ist klar zu sehen, daß FDR nicht einfach nur ein besserer Politiker war als andere, sondern ein Mensch, der ganz genau erkannte, daß die Gesellschaft, in der er lebte, vor einer grundlegenden Änderung stand - zum Guten oder zum Schlechten -, und daß es mit an ihm selbst lag, darüber zu entscheiden.

Er sagt gleich zu Anfang seines Buches, daß Politik als eine Wissenschaft angesehen werden muß, die in der Lage ist, das Leben der Bürger positiv zu beeinflussen, und daß es daher die Aufgabe der Führung eines Landes sein muß, diese Wissenschaft aktiv zu betreiben und voranzubringen, um das bestmögliche für die Bevölkerung tun zu können. Das müsse gerade dann geschehen, wenn die Lage in einem Staat so verfahren ist, daß viele nicht mehr an eine Änderung des bestehenden Systems glauben, während alles aus den Fugen gerät. Genau dann müsse die Politik, als wahre Wissenschaft betrachtet, diese Situation ändern und die Krise positiv lösen.

Aber was bedeutet das eigentlich - „Politik als Wissenschaft“? Es bedeutet ganz einfach, daß ein Politiker - wenn er kein machthungriges Schwein ist - ein Universalgelehrter sein muß, oder wie Platon es bereits vor 2500 Jahren nannte, ein Philosophenkönig. Das ergibt sich einfach aus der Tatsache, daß jeder ernsthafte Politiker in der Lage sein muß, souveräne Entscheidungen zu treffen, und daher auch einen Überblick über viele verschiedene Felder des Lebens einer Nation haben muß. Ein Politiker, der zu einem immer größeren Teil auf die Meinungen von Beratern angewiesen ist, muß sich daher die Frage stellen, ab wann er anfängt, nicht mehr der gewählte Repräsentant der Bevölkerung zu sein, sondern andere Interessen vertritt, vielleicht, ohne es zu wissen.

FDR verstand dies sehr genau, was ihn zu der Aussage veranlaßte, daß er für eine Wirtschaftsplanung eintritt, die sich nicht nur auf die jetzige Periode bezieht, sondern auf längere Zeit darüber hinaus. Dabei gelte es auch die Frage endgültig zu klären, ob der einzelne Mensch einem Staats- oder Wirtschaftssystem zu dienen hat, oder ob diese nicht vielmehr dem einzelnen Menschen zu dienen haben. Da uns der gesunde Menschenverstand sagt, daß nur der zweite Fall dazu dienen kann, eine menschenwürdige Gesellschaft zu schaffen, wird klar, daß weder die Regierung noch die Wirtschaft ungezügelt machen darf, was sie will, und daher in einen Rahmen gestellt werden muß, in dem sie dem Menschen dient.

Das wurde dann der Leitfaden vieler der Gesetze und Maßnahmen der Roosevelt-Administration, die somit die natürliche Weiterentwicklung der in der US-Verfassung verankerten universellen Prinzipien darstellten. Die Pecora-Kommission zum Beispiel war eine solche Maßnahme, denn sie sorgte dafür, daß die Machenschaften der Wall Street, die zu der großen Depression geführt hatten, aufgedeckt wurden, und es somit möglich wurde, genau in Erfahrung zu bringen, was nötig ist, um zu verhindern, daß so etwas nochmals geschieht.

Dann folgte, ebenfalls im Jahr 1933, das Bankengesetz, das heute unter dem Namen Glass-Steagall bekannt ist und das die Geschäftsbanken von den Investmentbanken (wie wir sie heute nennen) trennte. Damit sollte das Finanzsystem wieder zum Diener der Menschen gemacht werden.

Aber auch später noch war diese Haltung Roosevelts ausschlaggebend für neuerlassene Gesetze seiner Administration, wie z.B. das Gesetz zur Preiskontrolle, das 1942 erlassen wurde. Es wurde eingeführt, um die Bevölkerung vor den Kriegskosten zu schützen und durch die Festsetzung der Preise von Nahrungsmitteln sicherzustellen, daß sowohl Produzenten wie Konsumenten ein Auskommen hatten und nicht etwa die Bevölkerung auf Grund des Krieges verarmt, wie es nur allzuoft in der Geschichte der Fall war.

Bankenwesen und Börsenspekulation

Angesichts der jetzigen Lage möchte ich es nicht versäumen, auf das Kapitel „Bankenwesen und Börsenspekulation“ in dem erwähnten Buch Roosevelts etwas näher einzugehen. In diesem Kapitel spricht er ganz unverhohlen davon, wie es zu der Großen Depression kam und was jetzt getan werden müsse. Er beginnt wie folgt:

    „Es hat einen schrecklichen Wettlauf gegeben zwischen der wachsenden Flut schwindelhafter Börsengewinne und der wachsenden Arbeitslosigkeit. Sogar 1925 waren in den wichtigsten Erwerbszweigen zwei Millionen Menschen weniger beschäftigt als sechs Jahre zuvor, obgleich die Bevölkerung und die Produktion ungeheuer zugenommen hatten und viele neue Industrien aufgetaucht waren. Mehr kaufen, mehr Schulden machen und mehr ausgeben, das war die Parole, die zu einer wahren Sintflut verschwenderischer Exzesse, wüster Reklameorgien, leichtsinniger Schuldenmacherei und zu der wildesten Börsenspekulation führte, die das Land jemals erlebt hat. Gründer, Schlagwortfabrikanten, neugebackene Millionäre, Opportunisten und Abenteurer aller Art beherrschten das Feld.“

Wem kommt das nicht bekannt vor? Dieselbe Degeneration der Gesellschaft wie heute war auch damals deutlich zu sehen und bedingte dann die Krise, und diese Krise selbst wurde dann ein treibender Faktor, der die Gesellschaft noch verrückter werden ließ. Einige sahen Gewinne, neue Firmen und Industriezweige und lauter bunte Werbung und sagten sich, dann muß es ja der Wirtschaft und dem Land gut gehen. Sie gaben sich dieser sinnlichen Welt hin, weil sie einfacher und angenehmer war - mit anderen Worten, man versuchte, dem Schmerz und dem Unbequemen auszuweichen und den Lustgewinn zu steigern. Dadurch wurde es den Menschen auch immer gleichgültiger, was mit ihren Nachbarn und sogar mit ihren Kindern geschieht, und der einzige Unterschied zu heute ist, daß es damals noch nicht ganz so schlimm und global war, wie es heute der Fall ist.

Die Globalität des jetzigen Kollapses ist, glaube ich, jedem klar, und was die Verschlimmerung der Lage angeht, ist sie daran zu erkennen, daß es z.B. internationale Drogenmärkte gibt, die Dinge an Erwachsene und Kinder verkaufen, die in kurzer Zeit zum Tod führen, aber unglaublich viel Geld einbringen. So etwas gab es früher in diesem Ausmaß sicher nicht. Aber auch die sich derzeit abzeichnende kosmische Krise, in der vermehrt große und heftige Erdbeben, Wetterphänomene und Vulkanausbrüche stattfinden, stellt eine ungleich größere Herausforderung für uns heute dar.4

Daher sollten wir FDR genau zuhören und darüber nachdenken, inwiefern das von ihm gesagte auch auf uns heute zutrifft, um verstehen zu können, wie wir aus dieser Krise wieder herauskommen:

    „Man hat darauf hingewiesen, daß das amerikanische Publikum anscheinend für die Rolle der Alice im Wunderland ausersehen war. Und ich will gerne zugeben, daß Alice in den Spiegel der neuen Wirtschaftstheorie geschaut hat. Weiße Ritter schmiedeten große Pläne, faselten von den unbegrenzten Absatzmöglichkeiten im Ausland und diskontierten die Zukunft auf zehn Jahre voraus. Das Armenhaus sollte verschwinden wie die Grinsekatze. Ein verrückter Hutmacher lud alle Welt ein, noch ein paar Profite mitzunehmen, obwohl es, außer dem Papier, keine Profite mehr gab. Ein zynischer Vater William im Börsenviertel von Manhattan balancierte den schlängelnden Aal auf der Nasenspitze. Die verwirrte, etwas skeptische Alice stellte einige simple Fragen:

    ,Wird nicht das Drucken und Verkaufen immer neuer Aktien und Bonds, die Errichtung neuer Fabriken und die Steigerung der Leistungsfähigkeit dazu führen, daß wir mehr Waren erzeugen, als wir kaufen können?’

    ,Nein!’ rief Jabberwocky, ,Je mehr wir erzeugen, desto mehr können wir verkaufen.’

    ,Und wenn wir Überschüsse produzieren?’

    ,Oh, die verkaufen wir an die ausländischen Verbraucher.’

    ,Wie können denn die Ausländer diese Überschüsse kaufen?’

    ,Nun, wir leihen ihnen das Geld.’

    ,Ich verstehe schon’, sagte Alice. ,Sie kaufen mit unserem eigenen Geld unsere Überschüsse. Natürlich werden diese Ausländer uns unser Geld dadurch zurückzahlen, daß sie uns ihre Waren schicken?’

    ,Oh durchaus nicht’, sagte Humpty Dumpty. ,Wir sitzen auf der hohen Mauer unseres Hawley-Smoots-Tarifs.’5

    ,Wie sollen denn die Ausländer diese Anleihen zurückzahlen?’

    ,Das ist ganz einfach, hast du noch nie etwas von einem Moratorium6 gehört?’

    So kindisch es klingen mag, wir haben hier die Zauberformel von 1928. Diese Münchhausentheorie, man könne sich an dem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, fand allgemeinen Glauben. Sie schien zu wirken. Unter dem Bann dieser Fabel opferte die Bevölkerung auf dem Altar der Börse die spärlichen Ersparnisse eines ganzen Lebens. Die Geschäftsleute waren ehrlich überzeugt, sie hätten einen sachverständigen Rat erhalten, und setzten durch neue sprunghafte Expansionen ihre Zahlungsfähigkeit aufs Spiel. Die Bankiers gaben Kredite her, nicht auf Grund vernünftiger Überlegungen, aber dafür viel zu reichlich. Der gesunde Menschenverstand verstummte vor dem Zauber einer ökonomischen Nekromantie.“7

Die Totenbeschwörung der Ökonomen und Politiker ist uns auch heute nur allzu gut bekannt. Statt bereits vor vier Jahren zu sagen, „So, jetzt ist Schluß, das System ist am Ende, und jetzt wird untersucht, woran es gestorben ist und wie man verhindern kann, daß so etwas nochmals geschieht“, hat man einfach einen Zauberspruch nach dem anderen herausgeholt, um so das Unausweichliche noch weiter herauszuzögern.

Die Tatsache, daß FDR diese Dinge völlig offen ansprach, veränderte schon einiges, denn wenn ich mir vorstelle, daß unsere Staatsführer den Mut fänden, diese Dinge direkt anzusprechen, dann würden viele und gerade die in der verlorenen Generation aufhorchen und ihren Mut wiederfinden, weil sie sähen, daß es da jemanden gibt, der es ehrlich mit ihnen meint und dem sie vertrauen können. Genau das tat FDR, und dadurch gewann er immer mehr das Vertrauen der Bevölkerung. So wurde es möglich, wieder Optimismus in der Gesellschaft zu wecken. Er erklärte ganz offen, er sei der Auffassung, daß nicht der Mensch dem Staat oder der Wirtschaft dient, sondern diese dem Menschen zu dienen haben, und er sagte:

    „Ich bin der Meinung, daß die Regierung, ohne daß die Bürokratie überall ihre Nase hineinzustecken braucht, ein hemmendes Gegengewicht gegen diese Oligarchie darstellen kann, mit dem Ziel, dem einzelnen Menschen Bewegungsfreiheit, Existenz- und Arbeitsmöglichkeiten und die Sicherheit seiner Ersparnisse zu gewährleisten, nicht aber mit dem Ziel, dem Ausbeuter die Ausbeutung, dem Börsenspekulanten die Spekulationsfreiheit und all denen, die gerne mit dem Wohl und dem Eigentum anderer Leute bis zum bitteren Ende spekulieren möchten, eine unumschränkte Machtstellung zu sichern.“

Dann stellt er noch weitere, ganz konkrete Forderungen auf, zu denen auch der Schutz der Bevölkerung vor Irreführung durch Wertpapierhändler und die strikte Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken gehörte, was später als Glass-Steagall-Gesetz bekannt wurde.

All das schrieb er bereits in Artikeln und Reden vor seiner Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, und das zeigt uns heute, daß es sehr wichtig ist zu prüfen, ob derjenige, den man wählen will, auch etwas aus dem gemacht hat, was sein Wahlversprechen bekräftigt.

Ein Mensch, der wirklich etwas zum Besseren verändern will, hat auch eine Vorgeschichte, und diese sollte man sich immer genau anschauen, bevor man zur Wahlurne geht, denn diese Vorgeschichte zeigt uns, ob wir es mit einem Demagogen oder mit einem ehrlichen Menschen zu tun haben. Bei Roosevelt können wir genau nachvollziehen, was ihn zu seinen Handlungen bewegt hat, und wir können sehen, daß dies die Liebe zur Menschheit war, und der Drang, die Prinzipien der US-Verfassung8 für alle Menschen geltend zu machen.

Der Neubeginn?

Man könnte sicher viel dazu sagen, weil gerade die Pessimisten immer wieder die Zeit nach 1945 dazu heranziehen wollen, Roosevelts Politik in den Dreck zu ziehen. Ich möchte es hier aber auf ein paar wenige Punkte beschränken. Zuerst soll gesagt sein, daß bereits ab 1944 zu erkennen war, daß der Krieg bald zu Ende sein würde, was dann der Grund dafür war, daß von Seiten der Briten massiv versucht wurde, Roosevelts Politik anzugreifen und umzukrempeln, indem man z.B. vermehrt John Maynard Keynes ins Spiel brachte, wie man deutlich an den Auseinandersetzungen auf der Bretton-Woods-Konferenz zwischen den New Dealern und den Keynesianern sehen kann.

Aber auch die Wahl des Vizepräsidenten wurde so manipuliert, daß nicht Henry A. Wallace, sondern Harry S Truman der Stellvertreter Roosevelts wurde, der dann sofort nach dem Tod des großen Präsidenten daran ging, all das, was FDR gemacht und geplant hatte, zu zerstören, um, wie von Britannien wiederholt gefordert, dessen Vormachtstellung in der Welt wiederherzustellen.9

Dennoch gab es in vielerlei Hinsicht einen Neubeginn, und vielleicht am deutlichsten ist dies darin zu sehen, daß die Menschen wieder Vertrauen in die Politik und in sich selbst hatten. Unter Roosevelt wurden die USA aus einem zerstörten Land zur produktivsten Volkswirtschaft der Welt. FDR hinterließ eine Wirtschaft und Arbeitsmoral, die später in der Lage war, das Apollo-Programm unter Kennedy zu stemmen und die ersten Menschen auf den Mond zu bringen. Ebenso hinterließ seine Administration ein politisches Modell, das jeder Staat in der Welt anwenden kann, wenn er sich wirklich dem Gemeinwohl verpflichtet sieht. Und - vielleicht das wichtigste - Roosevelts Politik ermöglichte einen Neubeginn für die verlorene Generation, da sie durch ihn begriffen hatte, daß sie nur so lange verloren ist, wie sie sich selbst verloren gibt.

Heute

Heute stehen wir wieder vor einem Scherbenhaufen des Wirtschafts- und Finanzsystems und vor einem möglichen Dritten Weltkrieg, und es ist nicht übertrieben, zu behaupten, daß dies eine direkte Folge davon ist, daß man die Vorschläge der Roosevelt-Administration nicht umgesetzt hat, sondern in das alte System des britischen Imperiums zurückfiel. So schrieb Roosevelts Vizepräsident und guter Freund Henry A. Wallace in seinem Buch Das Jahrhundert des Volkes folgendes:

    „Irgendwann in den Jahren 1943 und 1944 wird unsere Entscheidung fallen, ob wir die Samen des Dritten Weltkrieges streuen...

    Wenn nicht die westlichen Demokratien und Rußland vor Ende des Krieges zu einem befriedigenden Einvernehmen kommen, so fürchte ich sehr, daß der Dritte Weltkrieg nicht zu vermeiden sein wird…

    Freilich kann der Grund zu einem Dritten Weltkrieg auch durch die Taten anderer Mächte gelegt werden, selbst wenn wir in den Vereinigten Staaten die konstruktivste Politik machen, die nur denkbar ist. Zum Beispiel wäre ein solcher Krieg unvermeidlich, wenn Rußland wieder die trotzkistischen Ideen aufgreifen würde, eine Weltrevolution anzustiften, oder wenn britische Interessen wieder die antirussische Tätigkeit in Deutschland und anderen Ländern fördern würden.“

Wallace sah, daß die Gefahr bestand, daß alles, was diese Administration an Gutem getan hatte und noch tun wollte, von eben jenen Interessen angegriffen werden würde, die schon die Krise der zwanziger und dreißiger Jahre verursacht hatten. Es ist zwar nichts von dem, was Wallace sagte, genau so eingetroffen, aber vieles ist durchaus ähnlich verlaufen, und so stehen wir heute mit den jüngsten Entwicklungen wirklich am Rande des dritten Weltkrieges, weil wir es zugelassen haben, daß der Wahnsinn wieder Einzug in die Politik gehalten hat.

Denn anstatt nach dem Zweiten Weltkrieg mit Rußland vernünftig zusammenzuarbeiten, gab es den von Truman eingeleiteten Kalten Krieg, und nach 1989/90 massive Spekulationsorgien im Namen der freien Marktwirtschaft und Europäischen Union. Gleichzeitig erleben wir heute, gerade in der EU, eine Kampagne gegen Rußland und China. Dabei sieht man, daß ganz speziell in Deutschland derzeit eine solche Hetze vor allem deshalb gemacht wird, um zu verhindern, daß sich das wichtigste Land der EU vielleicht doch von der City of London10 abwendet und im pazifischen Raum nach Möglichkeiten zur Zusammenarbeit Ausschau hält, um einen weltweiten Wirtschaftsaufbau einzuleiten, statt weiterhin sinnlose undemokratische Rettungspakete an Privatpersonen zu bezahlen und die Bevölkerung auszubeuten.

Ich möchte aber trotz der derzeitigen schwierigen Lage der Welt mit einem positiven Bild enden, das uns gleichzeitig als Ansporn und Anleitung für die Zukunft dienen soll. Es ist ein längeres Zitat von Wallace aus dem erwähnten Buch, und zeigt ganz deutlich, was damals die Möglichkeiten und Perspektiven waren und was heute getan werden muß, wenn wir statt eines finsteren Zeitalters eine Renaissance haben wollen:

    „Im Laufe der Geschichte hat jede große Nation die Chance gehabt, sich selbst zu nützen, indem sie der Welt nützte. Wenn eine solche Chance mit weitem, großzügigem Geist erfaßt wird, dann öffnen sich unermeßliche praktische Möglichkeiten. Tausende von Unternehmern haben in den Vereinigten Staaten etwas Entsprechendes in kleinerem Maße in ihrem eigenen Erfahrungskreis erlebt, wenn eine weitsichtige, erleuchtete Handlungsweise ihr Wohlergehen gefördert und dem Nachbar Arbeit gegeben hat. Christentum ist nicht Sternguckerei oder närrischer Idealismus. In weltweitem Maßstab angewendet, ist es aufs höchste verwirklichbar. Brot, das ins Wasser geworfen wird, kehrt zurück. Freundschaftsakte der Völker bleiben in der Erinnerung. Die Hilfe für hungernde Völker bleibt unvergessen. Wir Amerikaner, die jetzt die größte Chance haben, die je ein Volk hatte, wollen nicht über fremde Rassen herrschen oder unser Geld, unsere Techniker, unsere Denkweise denen aufdrängen, die sie nicht wollen. Aber wir glauben: Wenn wir diesem Hilferuf antworten, werden wir nicht nur einen christlichen Geist bezeugen, sondern auch einem Lebensgesetz folge leisten.

    Wir in den westlichen Demokratien müssen die Verwirklichbarkeit unserer Religion unter Beweis stellen. Wir müssen China und Indien eine hilfreiche Hand entgegenstrecken; wir müssen mit Preußen fest und gerecht sein; wir müssen anständig und fair gegenüber Rußland handeln, und tolerant und hilfreich sein, wenn Rußland seine Wirtschaftsprobleme auf seine eigene Weise zu lösen versucht; wir müssen beweisen, daß wir selbst in unserer amerikanischen demokratischen Lebensform ein Beispiel der Vollbeschäftigung und der Vollproduktion zum Nutzen des kleinen Mannes geben können.

    Durch die Zusammenarbeit mit der übrigen Welt, um die Produktivkräfte voll zu verwerten, werden wir unsere eigene Lebenserhaltung heben und dazu beitragen, daß die Lebenserhaltung anderer Völker gehoben wird. Das heißt nicht, daß wir das Brot aus dem Mund unserer Kinder nehmen, um die Kinder der andern zu ernähren, sondern daß wir mit allen zusammenarbeiten werden, um die Tatkraft eines jeden zu wecken und Gottes Erde der ganzen Menschheit besser fruchtbar zu machen.“11 (8. März 1943)

Es liegt jetzt also an uns, dafür zu sorgen, daß unsere Staatsführer in allen Ländern dieser Welt so über ihre Religion, Politik und Wirtschaft nachdenken, daß wir damit in eine bessere Zukunft gehen können. Also helfen Sie mit, indem Sie unsere Ideen verbreiten und uns finanziell unterstützen, damit wir weiterhin unsere Arbeit leisten können.


Anmerkungen

1. Wie es typisch für die Sozialismus//Kapitalismus-Debatte ist.

2. Das elektrische Stromtal Tennessee, David E. Lilienthal, Paul List Verlag 1950.

3. Daß dies gesetzmäßig so ist, kann man sehr genau an Nikolaus von Kues’ Prinzip der coincidentia oppositorum, dem Zusammenfall der Gegensätze sehen.

4. http://larouchepac.com/mastering-nature.

5. Extrem hohe Zölle, die 1930 eingeführt wurden, also vor Roosevelts Präsidentschaft.

6. Etwas aufschieben, mit anderen Worten werden einfach die Rückzahlungen aufgeschoben, weil es den USA primär nicht um die Rückerstattung des Geldes ging, sondern darum, irgendwie ihre Güter an den Mann zu bringen.

7. Nekromantie = Totenbeschwörung.

8. Das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.

9. Siehe dazu auch die Diskussionen zwischen Churchill und Roosevelt sowie Elliott Roosevelts Buch Wie er es sah sowie Lyndon LaRouches Aufsatz „The Geometry of the Henry Wallace Nomination“, EIR, 7. Nov. 2003 (http://www.larouchepub.com/lar/2003/3043wallace_nomin.html).

Ein Auszug aus diesem Aufsatz erschien unter dem Titel „Warum Wallace 1944 nicht nominiert wurde - Ein Fall politischer Geometrie“ in der Neuen Solidarität 11/2004.

10. Das Londoner Bankenzentrum, wo die größten Banken der Welt ihren Sitz haben und ihre Pläne schmieden.

11. Henry A. Wallace war ein sehr religiöser Mensch, ohne dabei fundamentalistisch und anderen gegenüber herabwürdigend zu sein. Er besinnt sich oft in seinen Schriften auf die besten Werte des Christentums, wie Nächstenliebe, die Unsterblichkeit der Seele und „seid fruchtbar, mehret euch und macht euch die Welt untertan“ (Gen. 1,23). Für ihn ist dies nichts besonderes, sondern es gehört zum Selbstverständnis seiner Person.





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